Der Entschluss war schnell
gefasst: Als wir vor einem Dreivierteljahr nach einer anstrengenden Woche in
Odessa am Strand saßen, uns langsam klar wurde, wie erschöpft wir waren und wir
auf die Versorgung von mehr als 400 Kindern mit Hörgeräten zurück und auf das
Meer hinaus blickten, war schnell klar: Wenn es irgendwie geht, sind wir zur
nächsten Versorgungsreise wieder dabei. Damals ahnten wir noch nicht, dass wir
damit bis Februar würden warten müssen.
Irgendwann stand der Termin, und
mit der sich allmählich steigernden Spannung und Vorfreude kamen bei mir auch
die Zweifel wieder, was ich denn Nützliches zu der Reise beitragen kann.
Schließlich bin ich weder brauchbarer Dolmetscher, noch Akustiker oder Arzt,
sondern bei diesem Projekt eigentlich nur als Helfer und Anhängsel von Regina
dabei. Immerhin, in Odessa hatte ich ja immer etwas zu tun gehabt, und zwei
Wochen vor meiner letzten Mitgliederversammlung war klar, ich würde alles tun,
damit diese Reise der krönende Abschluss meiner Tablerzeit wird.
Der Abreisetag fing dann gleich
mit den nächsten Verzögerungen an – wegen Schneesturm in Amsterdam fiel unser
Hinflug aus, und es ging ein paar Stunden später per Direktflug nach Kiew. Die
Unterkunft im „Lager Lider“ versprach die nächsten Abenteuer: verschneites
Gelände, imposante Eiszapfen am Dach, Zimmer, die noch den Charme des früheren
sowjetischen Ferienlagers atmeten, eine altersschwache Heizung, der mit nicht
minder kurios aussehenden tragbaren Heizlüftern auf die Sprünge geholfen wurde.
Dafür gab es gute Arbeitsmöglichkeiten, Kinderbetreuung für die wartenden
Klassen und eine kultige russische Sauna, in der wir immerhin zweimal dazu
kamen, uns gut 120 Grad von den frostigen Außentemperaturen abzusetzen.
Ein Teil des Teams hatte schon
einen hektischen Versorgungstag in Odessa und eine Fahrt im Nachtzug hinter
sich und erhoffte sich von mir etwas ruhigere und geordnetere Abläufe in den
Warteschlangen, aber am ersten Tag kämpfte ich doch eher vergebens gegen das
Chaos auf den Fluren. Am zweiten Tag hatten sich die Abläufe zwischen uns und
den unermüdlichen Betreuerinnen aber soweit eingespielt, dass die Kinder
pünktlich dort ankamen, wo sie schnell und mit geringstmöglichem Stress
versorgt werden konnten. So hatte ich auch erst dann die Ruhe, die magischen Momente
mitzuerleben, wenn ein Kind zum ersten Mal auf die Geräusche aus seinem frisch
eingeschalteten Gerät reagiert.
Die Reaktionen sind durchaus
unterschiedlich. Manche Größeren kennen Hörgeräte aus der Schule oder sind
bereits (aus Kostengründen dann oft nur auf einem Ohr) einmal versorgt worden,
geben gekonnt Zeichen zur Justierung der Lautstärke und sind vor allem stolz,
zwei ganz eigene Geräte mit nach Hause nehmen zu dürfen. Andere sind
eingeschüchtert und frustriert von der überzogenen Erwartungshaltung ihrer
Eltern, Eltern, die am liebsten gleich ein ausgedehntes Gespräch führen wollen
mit einem Sprössling, der noch damit kämpft, aus den ungewohnten Wahrnehmungen
in seinem Kopf einen Sinn zu machen und sich vielleicht irgendwann später auch
einmal ohne Gebärdensprache artikulieren zu können. Einige wenige sind bereits
gut versorgt und werden unsere Geräte wohl nur als Reserve nutzen, die ihre
Eltern vielleicht auch selbst bezahlen könnten. Manche Eltern sind auch einfach
für eine zweite Meinung unserer Fachleute dankbar, wenn kommerzielle
Versorgungszentren vor Ort halbjährlich versuchen, ihnen ihre mageren
Ersparnisse für immer neue Hörgeräte aus der Tasche zu ziehen. Fast alle, die
schon mehr oder weniger brauchbare Geräte haben, brauchen zumindest neue
Ohrstücke. Ein Mädchen im Teenageralter schielt mit traurigen Augen auf das
dezent-zierliche Gerät ihrer Klassenkameradin, weil ihr selbst nur mit einem
der etwas größeren Hochleistungsgeräte zu helfen war. Andere haben nach
negativen Hörtests nie eine Chance bekommen und geben Lehrern, die sie längst
aufgegeben hatten, mit Tränen in den Augen und schrillen Lauten Zeichen, dass
sie tatsächlich etwas hören. Wieder andere sind erst einmal glücklich, dass
sich überhaupt jemand um sie bemüht.
Auch dieses Mal gibt es Kinder,
für die wir nichts tun können, bei denen selbst das stärkste einem Menschen
zumutbare Hörgerät mit dem Schalldruck eines Presslufthammers direkt neben dem
Kopf zu keiner verwertbaren Wahrnehmung führt. Die Kinder verkraften diese
Enttäuschung oft besser als unsere Akustiker, die sie in der kurzen Zeit ins
Herz geschlossen haben. Immer wieder justieren Heike und Claudia (später, wenn
die letzten Ohrstücke gefräst sind, auch die anderen) die Geräte nach, sprechen
die Kinder an, klatschen, klappern mit einem Spielzeug, schauen mit den Tränen
kämpfend immer wieder auf uns Helfer, die ihnen wieder nur sagen können, dass
auch diese Reaktion des Kindes wohl nur durch einen Blick aus dem Augenwinkel
oder durch unsere eigene erkennbare Erwartungshaltung ausgelöst war. Jan, unser
coolster Doc der Welt, kann die Enttäuschungen besser verarbeiten – als Arzt
dürfte er an die Grenzen des eigenen Handelns gewöhnt sein. Auch ich komme mit
den Rückschlägen halbwegs klar. Viel zu sehr ist für mich noch jedes einzelne
Kind, dem wir auf seinem Weg ins Leben überhaupt ein Stückchen weiterhelfen
können, ob es irgendwann normal sprechen lernen wird oder einfach nur Gefahren
besser erkennt, ein kleines Wunder.
Und dann sind da immer wieder die
nicht ganz so kleinen Wunder: Kinder, die sich mit großen Augen und offenem
Mund umdrehen, sobald das erste Hörgerät eingeschaltet ist und hinter ihnen ein
Geräusch gemacht wird, die mit sich überschlagendem Stimmchen das „Babababa“
imitieren, das ihnen ein verborgener Mund vorspricht, die erste Worte
nachplappern, vielleicht auch schon die Frage „Wie heißt Du?“ beantworten.
Und wie in Odessa sitzen wir am
Ende einer anstrengenden Woche völlig erschöpft aber glücklich zusammen. Nur
anstelle der Vorfreude steht, für mich noch mehr als für alle anderen, die
bange Frage: „Soll das wirklich schon alles gewesen sein?“